«Was geschieht, wenn der Abend mit dem Ende beginnt? Und dazu das Stück vor Augen und Ohren der Zuschauer entsteht», fragt Susanne Mueller in ihrem Begleittext und lässt die Zuschauer rätseln. Denn auch ihre neue Produktion ist eine experimentelle Überraschung für die Zuschauer: Wie soll man es sich vorstellen, was kann man erwarten, was erwartet die Zuschauer? Ja, was erwartet die Zuschauer? Ein knapp einstündiger Abend, der mit sparsamen Mitteln beginnt, die Bühne ist ins Dunkle getaucht, die erhellt sich langsam mit den anschwellenden Klängen, die beiden Tanzperformerinnen Susanne Mueller Nelson und ihre finnische Kollegin Satu Tuittila nähern sich der Tanzfläche, nähern sich einander an, an ihre Rolle, an das Ende vom Anfang. Expressive und intensive Bewegungen wechseln ab mit zeitlupensanften Gesten. Alles ist schon geschehen, jetzt gilt es den Anfang zu erforschen. Die Klangkulisse von Jalalu-Kalvert Nelson und dem finnischen Musiker Harri Wallenius an Klarinette und Saxophon treibt die Emotionen wie Puls- und Herzschläge an, beschwört eine mysteriöse Spannung, die noch keine konkrete Geschichte hat. Noch ist es eine Geschichte der Bewegung, um Raum und Zeit und Gefühle zu ergründen als Ursprung verschiedener Ereignisse. Die Tänzerinnen formen Körperbilder im Lichtkegel, selbstvergessen, einander suchend, in Trance oder auf der Spurensuche, die Grenzen scheinen fliessend zwischen tänzerischer Abstraktion und bewegter Erregung. Getragen und gefordert von der Musik, die unmerklich eine Spannung erzeugt, die diese unmerkliche Spannung vorwärts treibt, gefühlvolle Stimmungen oder ahnungsvolle Atmosphäre einkreist. Da öffnet sich der Vorhang, ein zweiter Raum tut sich auf, betanzt von Satu Tuittila wie ein Spiegelbild von Susanne Mueller, Raum agiert gegen Raum, Expression gegen Expression, unterlegt vom sphärisch anklingenden Saxophon von Hari Wallenius. Kurze Textfetzen und stimmungsdichte strenge Lichtinstallationen (Daniel Müller) bestärken die Idee zusätzlicher erzählerischer Dimensionen.
«end::spiel 5» ist ein Spiel mit der Zeit und «eine Ode an die Poesie des Moments», wie es die Susanne Mueller in ihrem erklärendem Text formuliert. Und doch ist es mehr. Jede Vorstellung von «end:spiel» entsteht im Sinne einer «Instant Composition» vor den Augen des Publikums, jeder Aufführungsabend entwickelt seine eigenen Regeln. Jede tänzerische und musikalische Performance wird im Moment der Aufführung neu prozesshaft kreiert, so dass an jedem Abend ein neues Geschehen, eine eigene Spannung sich entwickelt - wobei die Grundidee, das Konzept an sich dasselbe bleibt. Ein heikles Unterfangen, gilt es doch das Publikum Bild für Bild mitzunehmen, im tänzerischen Prozess weder die Spannung noch das Publikum aus den Augen zu verlieren. Und Susanne Mueller und ihrer Tanzpartnerin gelang auf der Bühne des Berufsbildungszentrums das Beeindruckende mit dieser 5. Version: Sie erreichten das Publikum. Auf eine untergründige Weise gelang es ihnen, aus einer an sich abstrakten Körpersprache heraus eine geheimnisvolle Geschichte zu weben, das Publikum mit einzubeziehen in ein stringent gewobenes Spannungsnetz aus intuitiv ausgeführten Körperbildern, individuellen Tanzideen und klar choreografierten Bewegungskompositionen. Unmerklich eroberte das Wahrnehmbare das Ahnbare, spielte das Unerwartete mit dem Unberechenbaren einer widersprüchlichen Vision, bis sich der Kreis schloss: Ende und Anfang, Anfang und Ende schienen eins in der Stille des Raumes, die Zeit war wie im Nu verflogen.
Erschienen im Bieler Tagblatt vom 1. März 2010
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